Was steht wirklich im sogenannten ›Corona-Papier‹ ?
Seit einer Woche geistert der Bericht eines Mitarbeiters des Bundesministeriums des Innern durch die Medienlandschaft. Ich sage geistern, denn von einer klaren Auseinandersetzung mit dem Papier kann keine Rede sein. Zwar stürzten sich sofort alle darauf, nach bei Tichy ein erster Hinweis erfolgte; aber bei einigen Kommentatoren gewinnt man den Eindruck, sie hätten sämtliche Zeilen bei Kollegen zusammengesammelt. Denn ein einzelnes Papier existiert überhaupt nicht; es sind eigentlich zwei.
Bevor geklärt wird, was in den Papieren eigentlich steht, gilt es, ihren Werdegang zu erläutern. Ein Mitarbeiter des Ministeriums des Inneren hatte, heißt es bei Tichy, sich um den 29. oder 30.April Gunter Frank gewendet, mit der Bitte, ihn bei einem Anliegen fachlich zu unterstützen. Es ging, wie könnte es sein, um Corona. Offenbar saß der Mann zumindest in der Nähe der Macht – also stieß er auf offene Ohren.
Das Anliegen ist in wenigen Worten erklärt: Der Mitarbeiter, ich nenne ihn K., hatte seinen Vorgesetzten ein von ihm erstelltes Papier vorgelegt, dass die Vorgehensweise der Regierung deutlich kritisierte. Dieser ›Auswertungsbericht des Referats KM 4 (BMI)‹ ist auf den 25. April datiert und umfasst 83 Seiten mit einer Anlage.
Der Inhalt des ›Auswertungsberichts‹ kreist um ein einziges Thema: Die Schadensanalyse der Bundesregierung und ihrer Behörden. Diese Schadensanalyse sei defizitär, weil sie einen Aspekt komplett unterschlage: Die Schäden der Maßnahmen gegen das Virus. Indirekt aber deutlich forderte K. eine solche Analyse umgehend zu beginnen.
Als die angeschriebenen Behörden nicht reagieren, wendete sich K. an Gunter Frank. Offenbar verfügte K. nicht über die Mittel, diese Analyse, die seine vorgesetzte Behörde nicht durchführen will, selbst durchzuführen. Also bat er Gunter Frank um Unterstützung – die der Gefragte auch sofort zusagen konnte. Er wendete sich an mehrere ihm bekannte Kollegen. Diese ließen eine Schadenanalyse der Maßnahmen gegen Corona erstellen. Ob mit Frank oder K. zusammen wird nicht deutlich. In jedem Fall entstand ein zweites Papier. Auch dieses ging, muss man vermuten, in die Behörde.
Dieses zweite Papier enthält eine Auflistung aller möglichen schädlichen Folgen des Lock-Down. Allerdings befindet es sich in dem pdf-Dokument, das momentan im Internet kreist, am Beginn der Datei; die 83 Seiten der eigentlichen Kritik von K. bilden den zweiten, deutlich umfangreicheren Teil.
Doch Medien, Politiker und Kritiker der Regierungsmaßnahmen stürzten sich, nachdem das ›Corona-Papier‹ öffentlich wurde, auf den ersten, zeitlich und logisch aber nachgeordneten Teil. Ja, es entstand der Eindruck, als handele es sich bei um eine Analyse aus der Feder von K. Die Überschrift ›Analyse des Krisenmanagements (Kurzfassung)‹ legte das nahe. Nur handelt es sich keineswegs um eine Kurzfassung des weiter unten folgenden ›Auswertungsberichts‹; es handelte sich um das Resultat der Analyse. Was hier zusammengefasst worden ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Eventuell ist dem Ministerium durch K. eine sehr viel umfangreichere Analyse zugeschickt worden. Bei mehreren beteiligten Fachleuten liegt das nahe.
Die Reaktion der Regierung auf das zweite Papier, im Folgenden ›Analyse‹ folgte prompt. Der Mitarbeiter wurde fürs erste suspendiert. Auch auf den ›Auswertungsbericht‹ hatten die Behörden laut Tichy schon nicht freundlich reagiert. Anders als im Preußischen Generalstab, in dem jeder Offizier verpflichtet war, Kritik an einer geplanten Operation umgehend zu äußern, hielten es diese Regierungsvertreter mit Duckmäusern in ihren Ämtern. Mit anderen Worten: Sie macht das, was man dem Preußischen Generalstab immer wieder gern und fälschlicherweise unterstellt.
Kurz gesagt: In der Öffentlichkeit wird ein Papier diskutiert, das wahrscheinlich nur zu einem geringen Teil von dem Mitarbeiter des Ministeriums stammt. Doch genau für dieses Papier wird er attackiert. Ein Beispiel: Die Welt wirft K. vor, den Lock-Down fälschlich als ›Fehlalarm‹ zu bezeichnen, titelt sogar ›Fehlalarm-Papier‹. In ihrem Artikel bezieht sich das Blatt dann allerdings auf den ›Auswertungsbericht‹ - in dem das Wort ›Fehlalarm‹ zwar vorkommt. Allerdings nicht in der von der Welt dargestellten Weise. K. spricht nicht von einem ›Fehlalarm‹, sondern warnt davor, dass ein solcher entstünde, wenn eine Analyse des Schadens der Gegenmaßnahmen weiterhin unterbliebe. Von einem ›Fehlalarm‹ wird allein in der ›Analyse‹ gesprochen.
Diese Details des Papiers kümmern die Medien jedoch nicht. Mit den Machthabern drängen sie K. in eine Ecke, in die er ganz sicher nicht gehört: Zu den Verschwörungstheoretikern. K. ist ein fachlich versierter, besorgter Beamter, der seine Vorgesetzten mehrfach gewarnt hat und sich dann an die Öffentlichkeit wendet. Das macht der ›Auswertungsbericht‹ mehr als deutlich, wie wir gleich sehen.
Der ›Auswertungsbericht‹
Tatsächlich ist der ›Auswertungsbericht des Referats KM 4 (BMI)‹ alles mögliche – aber sicherlich kein Verschwörungspamphlet. Im Gegenteil, es ist eine sachliche Analyse des fehlerhaften Managements der Bundesregierung. Dabei steht die »Abwägungsprozesse« [2] im Zentrum der Analyse. Sie sollte »so professionell wie möglich erfolgen« [2] – erfolgte aber nach Einschätzung von K. aber schon im März »unprofessionell und unsolide« [61].
Hinter dieser Arbeitsweise könnte man Absicht vermuten – ein typisches Merkmal von Verschwörungstheorien, vielleicht das Merkmal überhaupt. Das aber macht der Bericht eben nicht. Statt dessen heißt es gleich zu Beginn: »Die Krisenstäbe, und das Krisenmanagement als Ganzes, leisten mit hohem persönlichem Einsatz eine extrem wichtige und zugleich die schwierigste Arbeit, die man sich vorstellen kann.« [2]
Der Bericht zielte zunächst auch nicht auf die Öffentlichkeit. »Es handelt sich ausdrücklich nicht um ein Produkt für die Öffentlichkeitsarbeit, sondern um einen internen Bericht, der keinen anderen Zweck verfolgt, als einen fachlich fundierten Impuls zur Optimierung des Krisenmanagements und zur Maßnahmenplanung zu leisten.« [] Ja, hier schrieb ein Mitarbeiter auch im Zustand der Verzweiflung angesichts der falschen Strategie leitender Leute. Daher mag der ein oder andere Satz aus dem ›Auswertungsbericht‹ überzogen erscheinen und dem geläufigen Beamtendeutsch nicht entsprechen – aber K. ist bleibt immer Fachmann, ein Fachmann, der verständlicherweise am Übermut der Ämter verzweifelt.
Und was steht nun im ›Auswertungsbericht‹ ? – Das ›Auswertungsbericht‹will ich hier nur skizzieren, denn der volle Text ist im Internet leicht verfügbar. Wie gesagt, es geht um den zweiten Teil des Dokuments.
Nach einer Vorstellung seines Amtes, beschreibt K., wie die Verantwortlichen auf die Krise vorbereitet waren. Dabei geht er theoretische Warnungen durch und beschreibt eine Übung von 2007 und die Risikoanalyse aus dem Jahr 2012. Alle Punkte werden im Hinblick auf das durchleuchtet, was K. Kritische Infrastruktur nennt. Dazu zählt K. unter anderem die Gesundheitssysteme, aber auch IT-Sicherheit und Trinkwasserversorgung [74] – Aspekte, die in der aktuellen Situation bestenfalls am Rande erwähnt werden.
Dabei kann K. zeigen, dass schon bei der Auswertung der Übung von 2007 darauf verwiesen wurde, dass die einseitige Risikoanalyse ein Problem werden könne. Zitat: »Im Ergebnis wurde genau das beschrieben, was heute eines der großen Probleme der Krisenbewältigung ist. Die ressortübergreifende Risikobetrachtung war mangelhaft.« [14] K. arbeitet redlich und liefert den Verweis in die Analyse der Übung von 2007. Dann resümiert K.: »Ein extrem schwerwiegendes Defizit und zugleich massiver handwerklicher Mangel eines Krisenmanagements besteht in der unzureichenden Risikoermittlung durch das Krisenmanagement.« [14] Sprich: Es wurden nur die Folgen der Epidemie, nicht aber die Folgen ihrer Abwehr beachtet.
Äußerst kritisch geht er mit den Lageeinschätzungen der Verantwortlichen während der schon laufenden Corona-Krise ins Gericht; ab Seite 41. Auch hier lautet der Tenor: Die Regierung betrachtete allein die möglichen Schäden durch die Epidemie und ließ die schädlichen Folgen der Maßnahmen komplett außer Acht. Diese werden von K. als »Kollateralschäden« bezeichnet – ein treffender Begriff aus der militärischen Welt. Man kann K. nur zustimmen, wenn er schreibt: »es wurde aus der Übung nichts gelernt« [14].
Im Ergebnis, schreibt K. weiter, droht Krisenmanagement »in einer derartigen Krise zu etwas zu werden, was es nicht sein sollte: ein überwiegend spekulatives Geschäft mit dem Schicksal unseres Gemeinwesens und unserer Bevölkerung.« [15]
Deutlich muss gesagt werden, dass es K. zunächst um die Analyse geht – und keineswegs um die Verbreitung von Schreckensszenarien. Doch seine Vorgesetzten reagieren auf seine Vorschläge offenbar nicht, die er in mehreren Anlagen dem ›Auswertungsbericht‹ beigefügt hat [44], bei Tichy aber nicht einsehbar sind.
›Analyse‹
Die ›Analyse‹, also der erste, gerade einmal acht Seiten umfassende Teil des Dokuments, verfolgt einen ganz anderen Zweck, als der ›Auswertungsbericht‹. Und auch das haben die meisten Medien nicht registriert und die Regierung hat es entweder aus Unfähigkeit oder absichtlich unterlassen, auf diesen Punkt zu verweisen.
Ja, die Analyse beschreibt ein Schreckensszenario. Aber genau das ist der Zweck einer Risikobeschreibung, die sich einer von zwei Seiten widmet. Die Befürworter der maximalen Corona-Abwehrmaßnahmen machen es nicht anders. Sie schrauben die möglichen Todeszahlen so weit wie möglich nach oben. Vergleiche mit der Situation im Zweiten Weltkrieg sprechen Bände.
Die ›Analyse‹ hat einige deutliche Schwächen. Vermutungen werden als Fakten verkauft – so wird ohne Nachweis von »Einschränkungen der Klinikverfügbarkeiten« gesprochen, obwohl bekannt ist, dass viele Kliniken Überkapazitäten vermelden; und dass Operationen trotz leerer Operationssäle nicht durchgeführt werden, darf man wohl ausschließen; der Ton ist durchgehend polemisch, was einer Analyse praktisch immer schadet; und die Rede vom »Fehlalarm« ist angesichts der Sterblichkeitsraten in Ländern wie Italien und Spanien schwerlich überzeugend. Aber sind die Fachleute vom RKI soviel besser ? – Hier wie dort wäre eine sachliche Kritik angemessen und hier und dort auch mal das Eingeständnis, etwas schlichtweg nicht zu wissen.
Statt dessen wird die ›Analyse‹ geradezu bösartig attackiert. Das Ministerium hat K., dem die sie Analyse offenbar zuschreibt, geraten, sich einen Rechtsbeistand zu suchen. Sachliche Reaktion auf Kritik sieht anders aus, insbesondere, nachdem die Ministerien auf den ›Auswertungsbericht‹ nicht reagierten.
Fazit
Die Reaktionen auf das sogenannte ›Corona-Papier‹ zeigen ein Land im Zustand einer tiefen Verstörung. Da, anders als 2015, wohl kaum Absicht hinter dem desaströsen Vorgehen steckt, erweist die Regierung sich in Zeiten der Krise als den Fragen nicht gewachsen. Zuerst wird überhaupt nicht reagiert, dann keine ausgewogene Risikoanalyse durchgeführt, danach Panik verbreitet. Jetzt, wo vieles darauf hindeutet, dass das Schlimmste vorbei ist, dümpelt Merkel entscheidungslos vor sich hin und gibt den Bürgern peinliche Ratschläge, wie sie sich am besten nach dem Essen die Finger waschen.
Zum Risiko verhalten sich die Verantwortlichen im höchsten Maße irrational. In Berlin etwa, gehen die Bürger dicht an dicht gedrängt durch Parks und an Seen spazieren; zugleich wird in den Schulen ein Betrieb durchgeführt, der Sicherheit suggeriert, in Wirklichkeit aber wahrscheinlich ebenso riskant ist wie der Regelbetrieb.
Typisch ist die heiße Diskussion, ob man die Bundesliga wieder eröffnet. Im Ernst: In einem Staat, in dem ein tödliches Virus grassierte, gälte diese Frage als obszön. Da schleicht sich der Eindruck ein, die Corona-Krise ist genauso künstlich erzeugt, wie das andre Modell, mit dem eine satte Gesellschaft sich Spannung verschafft: Die Klimakrise.
Wäre das Corona-Virus in Deutschland tatsächlich das, was die Regierung den Bürgern suggeriert, »wäre es nicht mehr nötig, eine Ausgehsperre zu verhängen. Die Menschen würden von sich aus nicht mehr aus ihrem Haus gehen, wenn um sie herum gestorben wird und jeder falsche Kontakt den Tod innerhalb weniger Tage bedeuten kann.« – »Und der Staat wäre gar nicht mehr in der Lage, Ausgangssperren flächendeckend durchzusetzen« – »u.a. durch höfliche Politessen, die mit erhobenem Zeigefinger Knöllchen verteilen und versuchen, dabei einen ernsthaften Eindruck zu machen. Der Staat hätte in einer gefährlichen Virus-Pandemie mit den verbliebenen Kräften wichtigeres zu tun.« – »Auch von der Arbeit müsste man niemanden abhalten, es würde keiner mehr hingehen, wenn dort möglicherweise der sichere Tod auf ihn wartete. Wer gebraucht wird, etwa weil er für den Betrieb einer Kritischen Infrastruktur benötigt wird, müsste von der Polizei abgeholt werden, weil er sich von seinen Lieben nicht entfernen will.« – »Die Polizei und Militär wären ebenso ausgedünnt, die Sicherheit und Ordnung könnte nicht mehr gewährleistet werden, Kriminalität würde überhandnehmen und, und, und.« – »In einer echten Krise käme wohl auch niemand auf die Idee, beim Bundesverfassungsgericht einklagen zu wollen, dass er in dieser Lage eine politische Demonstration durchführen darf. Eine Meldung in der Zeitung wäre das jedenfalls nicht wert.«
Diese Einschätzung stammt aus dem ›Auswertungsbericht‹. Und sie trifft den Nagel auf den Kopf. Deshalb wird es Zeit, dass die Regierenden sich endlich an die Arbeit machen und eine sachliche Analyse der Schäden ihrer Maßnahmen liefern.
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