Warum Ostdeutsche Russland verstehen wollen - Versuch einer Erklärung
Zu den seltsamen Begleiterscheinungen des Ukraine-Krieges gehört, dass viele Ostdeutsche um Verständnis bitten für Putin.
Im November 1989 endeten für viele Ostdeutsche über vier Jahrzehnte Besatzung durch russische Truppen. Jahre, die geprägt waren durch willkürliche Gewalt in allen nur denkbaren Formen von der Enteignung zur Deportation, von der Massenvergewaltigung bis zur Erschießung. Es war eine Gewaltherrschaft, die mit 17. Juni und 13. August ihre traurigen politischen Höhepunkte erlebte. Panzer gegen aufständische Zivilisten, eine Gefängnismauer gegen ein widerspenstiges Volk - das waren die Verhältnisse unter russischer Herrschaft im Osten Deutschlands.
Trotzdem reagieren ausgerechnet die Ostdeutschen heute auf den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht mit einer klaren Positionierung gegen den perfiden Aggressor, sondern, ganz im Gegenteil, versuchen sie sich mit Erklärungen der Abläufe, die zum Einmarsch geführt haben sollen. Nicht dass sie Putin unterstützen, also den Einmarsch und das Morden für gut begründet und berechtigt ersehen. Die Position wird nur von wenigen eingenommen und über deren Motive geht es mir hier nicht.
Nein, die Frage nach dem Grundwiderspruch steht im Raum, wie er sich etwa in der Positionierung der Alternative für Deutschland nach dem russischen Angriff zeigt. Wie kann es sein, dass die zu Teilungszeiten Drangsalierten jetzt um Verständnis für die Täter eintreten, die sie einst drangsalierten?
Für die AfD lässt sich dieser Widerspruch noch pointieren. Sie, die sich als Sachwalter deutscher nationaler Interessen versteht und daher die deutsch-russische Geschichte besonders gut kennen sollte, ist durchsetzt mit Mitgliedern und Positionen, die man als durch und Moskau-nah bezeichnen kann.
Dieser zutiefst widersprüchliche Standpunkt wird ergänzt durch zum Teil harsche Kritik an den Reaktionen aus Kiew. Dass die Ukrainer sich gegen die Russen wehren, scheint der eigentliche Kriegsgrund zu sein. Gäben sie auf, wäre die Welt in ihren Augen wieder in Ordnung. Und man muss befürchten, dass exakt dieser Standpunkt auch bezogen würde, überschritten russische Truppen die Grenze zu Polen oder marschierten in die baltischen Staaten. So dass schließlich gefragt werden muss: Wie reagierten sie auf einen Einmarsch russischer Truppen in Deutschland? Würden die Ostdeutschen die Russen mit offenen Armen empfangen?
Falls ja - es wäre nur in sofern verständlich, als der aktuellen, von vermeintlich christlichen Parteien flankierten Politik aus linker Ideologie und grünem Infantilismus eine Ende bereitet werden könnte. Genderunfug und kulturelle Auflösung hätten ein Ende. Doch allein die Drohung einer Dominanz russischer kultureller Elemente sollte die Freude über russische Panzer an Elbe und Rhein etwas dämpfen.
Zumal ja nicht nur in der Ukraine ein dritter Weg offen gezeigt wird: Für eine kulturelle Erneuerung Westeuropas braucht es keinen Machthaber Putin. Mitteleuropa ist in Warschau, Prag und Budapest längst wiedergeboren. Mit den baltischen Staaten und Rumänien entsteht vor dem Hintergrund einer umfassenden Unterstützung durch die USA ein wirkungsvolles Geflecht.
Und trotzdem bitten die Ostdeutschen um Verständnis für die Russen, dh. Führer im Kreml.
Dieser Widerspruch hat mich nicht erst seit dem 24. Februar, dem Beginn des Angriffskriegs Russland irritiert, sondern bereits sehr viel früher, gerade weil mir die Widerspenstigkeit der Ostdeutschen sympathisch war und ich bei Besuchen in Görlitz oder Jena dort mein Westdeutschland der 1970er Jahre wiederfand. Ein Land ohne allzu starke Kontrollen über Sprache und politisches Denken, ein Land mit verqualmten aber ernsthaften Talk-Shows, ein Land ohne penetrante Veganer und infantile politische Schranzen.
Und so suchte ich nach einer Erklärung, die mich überzeugte.
Bis ich sie fand. Sie ist, wie könnte es anders sein, psychologisch. Anders lässt sich widersprüchliches Verhalten nun einmal nicht erklären. Sie, die Erklärung, muss ja etwa überbrücken können, was sich an der Oberfläche der sprachlichen oder auch politischen Logik nicht zeigt, denn andernfalls zeigt sie sich noch immer ideologisch geglättet.
Des Rätsels Lösung liefert das Stockholm-Syndrom, also jenes seltsame Verhalten von Geiseln in Haft, die sich mit ihren Quälern identifizieren. Identifikation mit dem Aggressor wäre ein anderes, von der Psychoanalyse her bekanntes Wort; die geschlagene Frau, die trotz aller Hilfe und Unterstützung wieder und wieder zu ihrem Mann zurückkehrt und schließlich sogar um Verständnis bittet für ihn, den ›armen Kerl‹. Ein frühkindliches Trauma dient zur Erklärung brutaler Tätlichkeiten, erlebte Gewalt zur Entschuldigung ausgeübter Gewalt.
Auch hier bringen die Mitglieder der AfD es in ihrer Irrationalität auf den Punkt. Sie sind es ja gerade, die psychologische Entschuldungsmuster dieser Art in aller Regel verdammen. Völlig zu recht sagen sie: Ein Kindermörder bleibt ein Mörder, egal wie tiefgehend seine Psychologin forscht. Eine verlorene Kindheit darf nicht zur Abmilderung einer bösen Tat herhalten dürfen.
Und nun, bei einem Staatsmann, ja bei einem Staat, verrenkt sich diese Partei, um Putin und die Lage Russlands in der Welt als Erklärung für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu bemühen. Wenn das kein Widerspruch ist: Die intellektuell nicht eben helle Fraktion aus dem deutschen Parteiensumpf als Psychoanalytikerin und Halbnackedei Wladimir Putin auf ihrer Couch. Und das in einer Partei mit zahllosen inoffiziellen DDR-Oppositionellen. Die politischen Götter haben manchmal wirklich Humor.
Das aber war genau die Rolle, in der sich viele Ostdeutsche lange Jahre gegenüber den Russen befanden: In der Rolle der geschlagenen Frau. Sie wurden von den russischen Besatzern drangsaliert, erweitert um die Rechtfertigung, das alles diene dem Aufbau des Sozialismus. Wer möchte, kann hier die Familie einsetzen, für die der brutale Mann selbstredend alles tut.
Damit wird deutlich, warum das Phänomen gerade unter ehemaligen Mitgliedern der SED sich nicht so oft findet. Sie, die Handlanger Moskaus in Deutschland, profitierten vom Besatzungssystem, befanden sich nicht am leidenden Ende. Und nur dort, in der schweigenden, verängstigten Opposition, setzte sich die unbewusste Identifikation mit dem Aggressor fest. Man war nicht für die Russen, nicht einmal vor sich selber. So verweigerte man hartnäckig und sehr erfolgreich, Russisch lernen. Dieser stärkste Beweis der Sympathie mit einer fremden Kultur. Aber die Angst vor dem Gewalttäter blieb. Eine Angst, die, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, so verständlich ist wie die Angst der Ukrainer, seit die russischen Truppen sie bombardieren, vergewaltigen und ermorden.
Als nun Moskau am 24.Februar das unbotmäßige Kiew mit dem ersten großflächigen Angriffskrieg in Europa seit 70 Jahren überzog - vergleichbar allenfalls mit dem russischen Krieg gegen Ungarn 1956 -, da setzte bei den vormals drangsalierten jener Reflex ein, wie man ihn von drangsalierten Geiseln und Frauen kennt.
Zuerst wurde die Regierung in Kiew aufgefordert, den Widerstand einfach zu lassen. Die Russen wären ohnehin weit überlegen. Ein Kampf um die Freiheit koste nur unnötig Leben. Als dann die ukrainischen Truppen die Russen vor Kiew zum Rückzug zwangen, schlug die Sorge über die Opfer der Ukrainer um in Aggression gegen die Ukrainer und ihre Führung.
Denn die erfolgreiche Abwehr hatte den Ostdeutschen etwas vorgeführt, was sie alles in der Welt nicht sehen wollten: Dass man sich der Russen erwehren kann und wie man es macht: Man schießt zurück. In diesem Moment wurde das Verhalten der Ukrainer gleich mehrfach zum Ausgangspunkt einer inneren Wut gegen sich selber und das Verhalten bis zur Wende im November 1989. Sie hatten den nach Einschätzung der meisten Fachleute aussichtslosen Kampf aufgegriffen und die stets ja auch richtige und wirkungsvolle Ausrede für die eigene Passivität widerlegt. Gehorchen offenbarte sich im Nachhinein als Feigheit. Gegen eine solche Entwicklung halfen nur Spöttereien über die politische und militärische Führung in Kiew.
Wer vorsichtig war, beließ es bei der Bitte um Verständnis für die russische Seite. Die Bedeutung Russlands wurde betont und dass es ohne Russland nicht ginge. Dass sich auch dieses Reich einfach auflösen könne so wie Habsburg oder Spanien, kam den Ostdeutschen nicht in den Sinn. Eine Welt ohne Russisches Reich liegt für sie jenseits aller Vorstellung. Das würde den zweiten Tod der DDR bedeuten, ein zweites '89.
Doch diese Bitte um Verständnis für Putin ist keine Unterstützung des Despoten im Kreml. Das entspricht der Haltung in Teilen der Linken, die den Verlust des einstigen Großreichs bis heute nicht verwunden hat und die Propaganda des Kreml nachplappert wie in Zeiten von Mauerbau und Juni-Aufstand. Ostdeutsche mit einer Biographie, die fern der SED lag, bitten nur um Verständnis für die russische Position. Fast möchte man sagen, sie zeigen Mitleid mit der versinkenden Großmacht, die vor über 30 Jahren den Kalten Weltkrieg verlor.
Warum? - Weil Verständnis zeigen, insbesondere aber gegenüber den anderen um Verständnis für einen Dritten bitten, ein Ausdruck von Macht ist. Wie die geschlagene Frau, die noch vor Gericht händeringend nach ein paar guten Worten für ihren gewalttätige Mann sucht, legen jene Ostdeutschen Russland-Versteher ein gutes Wort ein für Russland. Sie ignorieren 120 Jahre und mehr russische Lügengeschichten und die dichte Folge von Terrorregimen, zu denen auch das gegen sie selber gehörte, und holen sich ein wenig Machtgefühl, weil sie dazu beitragen könnten, Russland vor der Rache der drangsalierten Länder bewahren.
Die Bitte um Verständnis entspricht einem Gnadengesuch, über das die Ostdeutschen entscheiden dürfen. Die US-Justiz kennt diese Konstellation, wenn sie den Angehörigen eines Mordopfers die Möglichkeit gibt, ein erfolgreiches Gnadengesuch zu blockieren. Väter und Mütter, Söhne und Töchter können über die Haftverschonung entscheiden, sind selber Richter, die den Mörder ihrer Liebsten für den Rest seiner Tage in den Bau bringen können, wieder und wieder.
Untergründige Angst und der ebenso tief verwurzelte Wunsch nach Rache treiben die Ostdeutschen an, wenn sie um Verständnis für Putin und Russland bitten. Verständnis, das ein Herrscher, der seine Nachbarn überfällt und den anderen Nachbarn mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, nicht wirklich verdient. Doch gegen Gewalttäter hilft nur Gewalt. Das ist die ganze traurige Wahrheit. Oder man unterwirft sich.
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