Ukraine-Krieg: Kadyrow empfiehlt den Einsatz von Atomwaffen
Seit über einem halben Jahr schwebt über dem Krieg Russlands gegen die Ukraine die Drohung, die russische Seite könne Atomwaffen einsetzen. Präsident Putin hat sie zunächst als Abschreckung ins Spiel gebracht, was noch leidlich im Rahmen aller bisherigen Drohungen mit Atomwaffen blieb; aber dann wurden verschiedene politische Vertreter Russlands immer konkreter. Sei es die Verzweiflung über ihre militärischen Niederlagen, sei es die Wut über die Ukrainer, die sich gegen das angebliche Brudervolk wehren – der Moment rückt näher, in dem Russland Atomwaffen einsetzen wird.
Denn mittlerweile wird der Einsatz nicht mehr als Drohung geäußert. Putins Kettenhund, Ramsan Kadyrow, Islamist und Machthaber über russische Teilrepublik Tschetschenien rief nach der Niederlage der Russen im ostukrainischen Lyman ganz offen dazu auf, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen.
Im Originalton bei Telegram liest sich das so und ich gebe einen guten Teil der Nachricht wieder, weil sie die Atmosphäre deutlich macht, in der die russischen Militärs momentan agieren – der ganzen Wortlaut steht im Anhang:
»Ich habe immer gesagt: Es gibt nichts Besseres als die Wahrheit, auch wenn sie noch so bitter und verletzend ist, nichts Besseres als die Wahrheit. Sie ist der einzige Weg, um voranzukommen. Deshalb kann ich nicht schweigen über das, was in Krasny Liman geschehen ist.
Der Befehlshaber des zentralen Militärbezirks, Generaloberst Alexander Lapin, war für die Verteidigung dieses Sektors zuständig. Derselbe Lapin, der für die Einnahme von Lisitschansk den Stern eines russischen Helden erhielt, obwohl er de facto gar nicht in der Nähe war. (…)
Eine Woche später verlegt Lapin sein Hauptquartier nach Starobelsk, hundert Kilometer von seinen Untergebenen entfernt, während er selbst in Luhansk sitzt. Wie kann er seine Einheiten zeitnah verwalten, wenn er 150 km von ihnen entfernt ist? Wegen des Mangels an grundlegender militärischer Logistik haben wir heute mehrere Siedlungen und ein großes Gebiet aufgegeben.
Es ist nicht so, dass Lapin mittelmäßig ist, was eine Schande ist. Aber dass er von seinen Vorgesetzten im Generalstab gedeckt wird. Wenn es nach mir ginge, hätte ich Lapin zum Gefreiten degradiert, ihm seine Auszeichnungen aberkannt und ihn an die Front geschickt, um seine Schande mit dem Gewehr in der Hand abzuwaschen. (…)
Die Armee muss Kommandeure ernennen, die charakterstarke, mutige und prinzipientreue Männer sind, die sich um ihre Männer kümmern, die für ihre Soldaten kämpfen und die wissen, dass ihre Untergebenen nicht ohne Hilfe und Unterstützung gelassen werden dürfen. (…)
Ich weiß nicht, was das Verteidigungsministerium dem Oberbefehlshaber berichtet, aber meiner persönlichen Meinung nach sollten wir drastischere Maßnahmen ergreifen, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzgebieten und zum Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.«
Ich weiß nicht, was das Verteidigungsministerium dem Oberbefehlshaber berichtet, aber meiner persönlichen Meinung nach sollten wir drastischere Maßnahmen ergreifen, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzgebieten und zum Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.«
Kadyrow fordert also nichts anderes als den Einsatz von Atomwaffen. Und der Zusatz »mit geringer Sprengkraft« macht nur deutlich, dass sogar ein Mörder wie Kadyrow weiß, was er da fordert. Aber er fordert es. Laut und deutlich auf Telegram, so daß es auch jeder lesen kann.
Und das macht dann auch den Unterschied: Forderungen nach dem Einsatz von Atomwaffen hat es in den vergangenen 70 Jahren mehr als einmal gegeben. Umstritten ist, ob General MacArthur Atomwaffen gegen Rot-China einsetzen wollte, als die Lage für die US-Truppen in Nordkorea schwierig wurde. Gesichert ist aber sowohl, daß Fidel Castro Russland aufgefordert hat, Atomwaffen gegen die USA einzusetzen, als eine Blockade seines Landes durch die US-Navy drohte, als auch der Plan von General Westmoreland, Atomwaffen gegen Ziele in Nord-Vietnam. Nur wurde keiner dieser Vorschläge für alle lesbar und hörbar öffentlich vorgetragen.
Kadyrow scheut sich dagegen nicht, seinen Vorschlag über Telegram zu verbreiten. Und damit überschreiten wir – ich sage ausdrücklich wir – eine Grenzlinie, die den Einsatz immer wahrscheinlicher macht. Ja, wenn ich die Erklärung von Kadyrow lese, dann bin ich sicher, daß dieser Einsatz auch kommen wird – es sei denn, die Russen hätten mehr zu fürchten, als es ihnen der Einsatz wert ist. Auch deshalb war es seit 1989 der größte politisch-militärische Fehler der Ukraine, dass sie ihre Atomwaffen 1993 an Moskau übergab. Nun könnten genau diese Waffen gegen sie selber eingesetzt werden.
Denn es sieht nicht so aus, als hätte Präsident Putin die Weisheit eines Chruschtschow, der Castro mit den berühmten Worten in seine Schranken verwies: »Im Telegramm vom 27. Oktober haben Sie uns einen atomaren Erstschlag gegen den Feind vorgeschlagen. (…) Lieber Genosse Fidel Castro, ich halte diesen Vorschlag für falsch, obwohl ich Ihre Beweggründe verstehe.«
Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in der Ostukraine verdient es Chruschtschows Antwort, in ganzer Länge wiedergegeben zu werden, denn sie dokumentiert den Unterschied zu den Tagen vor 60 Jahren:
»Im Telegramm vom 27. Oktober haben Sie [gemeint ist Castro] uns einen atomaren Erstschlag gegen den Feind vorgeschlagen. Sie wissen sicher, was das bedeuten würde. Es wäre kein einfacher Angriff, sondern der Beginn eines nuklearen Weltkriegs. Lieber Genosse Fidel Castro, ich halte diesen Vorschlag für falsch, obwohl ich Ihre Beweggründe verstehe. Wir haben den bisher ernsthaftesten Augenblick erlebt, an dem die Welt kurz vor einem Atomkrieg stand. Natürlich würden die USA in einem solchen Fall riesige Verluste erleiden, aber das Gleiche gilt für die Sowjetunion wie auch das ganze sozialistische Lager. Was Kuba betrifft, das kubanische Volk, so ist es schwer, generell zu sagen, wie es ausgegangen wäre. Kuba wäre zuerst im Feuer des Krieges verbrannt. Zweifellos hätte das kubanische Volk heroisch gekämpft, aber ebenso heroisch wäre es zugrunde gegangen, auch daran besteht kein Zweifel. Wir kämpfen jedoch nicht gegen den Imperialismus, um zu sterben, sondern um alle unsere Möglichkeiten zu nutzen, um im Kampf weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen, auf dass wir erfolgreich sind und dem Kommunismus zum Sieg verhelfen.«
Wie anders Castro: »Sollten die Imperialisten Kuba mit dem Ziel überfallen, das Land zu besetzen, dann ist die Gefahr, die von dieser aggressiven Politik für die Menschheit ausgeht, so groß, dass die Sowjetunion niemals Umstände zulassen darf, unter denen die Vereinigten Staaten, die Imperialisten, einen nuklearen Erstschlag gegen sie ausführen können. Ich sage Ihnen dies, weil ich glaube, dass die Aggressivität der Imperialisten äußerst gefährlich ist, und wenn sie eine so brutale, Gesetz und universale Moral verletzende Handlung wie die Invasion in Kuba begehen, dann wäre dies der Moment – als Akt legitimer Selbstverteidigung –, eine solchen Gefahr für immer zu beseitigen. Wie schwer und schrecklich diese Lösung auch wäre, eine andere gibt es nicht.« Auch Fidel Castro schlägt den Einsatz von Atomwaffen vor – wie Kadyrow, allerdings gegen die Vereinigten Staaten, was die Sache nicht besser macht.
Chruschtschow dachte aber nicht wie Kadyrow und Castro und daher war es ihm möglich, sich mit Kennedy auf einen Deal zu einigen: Du ziehst Deine Raketen aus der Türkei ab und ich meine von Cuba. Wo steht Präsident Putin? – Im Augenblick macht es eher den Eindruck, als stünde er hinter Kadyrow und dächte auch so. Denn das Russland von heute ist nicht mehr das Russische Reich mit sowjetischer Ideologie von 1962 und einem gewonnenen Zweiten Weltkrieg weniger als eine Generation zuvor und einem Sputnik am Himmel; Putin regiert ein Land, das den Kalten Weltkrieg 1989 verlor. Und deshalb wird ein Anruf schwerlich eine Krise abwenden.
Die Putin-Versteher wird das so und so nicht kümmern; und deren Anhänger noch weniger. Sie haben ihr Bild von der Welt und in dem sind Putin und Figuren wie Kadyrow die Guten oder: Die Amerikaner und überhaupt die Angelsachsen sind die Bösen. Selbst ein Atomwaffeneinsatz durch Moskau wird sie nicht hindern, auch das noch als notwendige Reaktion auf einen angeblichen amerikanischen Angriff zu werten.
Aber die Zukunft wird über Putin als den urteilen, der als erster Atomwaffen in Europa einsetzen ließ. Und egal wie die weiteren Schritte aussehen werden – ob Europa in einem Inferno endet, einige russische Militärs Rückgrat genug besitzen, Putin zu stürzen oder vielleicht die Russen selber dem Treiber ein Ende bereiten: In der Geschichte steht Putin dann da als einer von der Sorte Verbrecher, die es, wie viele hofften, zumindest in Europa nicht mehr geben sollte. Aber es sollte in Europa ja auch keinen umfassenden Landkrieg mehr geben. Es gibt ihn seit über einem halben Jahr wieder und ein Ende ist nicht absehbar.
*
Vollständiger Text der Nachricht von Kadyrow:
Ich habe immer gesagt: Es gibt nichts Besseres als die Wahrheit, auch wenn sie noch so bitter und verletzend ist, nichts Besseres als die Wahrheit. Sie ist der einzige Weg, um voranzukommen. Deshalb kann ich nicht schweigen über das, was in Krasny Liman geschehen ist.
Der Befehlshaber des zentralen Militärbezirks, Generaloberst Alexander Lapin, war für die Verteidigung dieses Sektors zuständig. Derselbe Lapin, der für die Einnahme von Lisitschansk den Stern eines russischen Helden erhielt, obwohl er de facto gar nicht in der Nähe war. Lapin wurde auch die Verantwortung für die Truppen des westlichen Militärbezirks übertragen.
Der Generaloberst hat mobilisierte Kämpfer der LNR und anderer Einheiten in alle Richtungen des Liman entsandt, ihnen aber nicht die nötige Kommunikation, Interaktion und Munitionsversorgung zukommen lassen. Vor zwei Wochen hat mich Generalmajor Achmat, mein lieber Bruder Apty Alaudinov, persönlich darüber informiert, dass unsere Kämpfer zu leichten Zielen werden könnten. Ich wiederum informierte Valery Gerasimov, den Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte, über die Gefahr. Aber der General versicherte mir, dass er nicht an Lapins militärischem Talent zweifelte und nicht glaubte, dass ein Rückzug in Krasny Liman und seiner Umgebung möglich sei.
Eine Woche später verlegt Lapin sein Hauptquartier nach Starobelsk, hundert Kilometer von seinen Untergebenen entfernt, während er selbst in Luhansk sitzt. Wie kann er seine Einheiten zeitnah verwalten, wenn er 150 km von ihnen entfernt ist? Wegen des Mangels an grundlegender militärischer Logistik haben wir heute mehrere Siedlungen und ein großes Gebiet aufgegeben.
Es ist nicht so, dass Lapin mittelmäßig ist, was eine Schande ist. Aber dass er von seinen Vorgesetzten im Generalstab gedeckt wird. Wenn es nach mir ginge, hätte ich Lapin zum Gefreiten degradiert, ihm seine Auszeichnungen aberkannt und ihn an die Front geschickt, um seine Schande mit dem Gewehr in der Hand abzuwaschen.
Vetternwirtschaft in der Armee wird nichts nützen. Die Armee muss Kommandeure ernennen, die charakterstarke, mutige und prinzipientreue Männer sind, die sich um ihre Männer kümmern, die für ihre Soldaten kämpfen und die wissen, dass ihre Untergebenen nicht ohne Hilfe und Unterstützung gelassen werden dürfen. In der Armee ist kein Platz für Vetternwirtschaft, insbesondere in schwierigen Zeiten.
Hatten wir nicht schon genug Rosinen? Damals habe ich gesagt: Feuert auf die feindliche militärische Ansammlung in Izyum, die von den Faschisten eingenommen wurde, zumal unsere Artillerie zu diesem Zeitpunkt eine solche Gelegenheit hatte. Wir würden die wichtigsten Satanisten und Faschisten sofort ausschalten. Wir müssen die EOD im vollen Sinne des Wortes durchführen und dürfen nicht damit kokettieren. Nutzen Sie jede Gelegenheit und jede Waffe, um UNSER Gebiet zu verteidigen. Donezk wird immer noch beschossen. Die Bewohner der vier annektierten Gebiete wollen geschützt werden.
Ich weiß nicht, was das Verteidigungsministerium dem Oberbefehlshaber berichtet, aber meiner persönlichen Meinung nach sollten wir drastischere Maßnahmen ergreifen, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzgebieten und zum Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft. Es ist nicht nötig, jede Entscheidung mit Blick auf die westliche amerikanische Gemeinschaft zu treffen - sie haben schon viel gegen uns gesagt und getan.
Gestern gab es eine Parade in Izyum, heute eine Fahne in Liman, und morgen was?
Es wäre alles in Ordnung, wenn es nicht so schlimm wäre.
|