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Der 3. Oktober 1918 –
Jedesmal, wenn jemand fragt, warum der 3. Oktober, weiß kaum jemand eine Antwort. Der ›Tag der Deutschen Einheit‹ scheint vom Himmel gefallen. Und ist es doch nicht. Auch wenn hier, wie so häufig, den Deutschen ihr kollektives Unbewußtes einen Streich gespielt hat. An diese Zeit wollen sie sich nicht mehr erinnern, auch wenn diese letzten Tage des Deutschen Kaiserreichs den heutigen ähnlicher sind, als die meisten auch nur ahnen.
Ende September 1918 wird Deutschland aus einem lange gehegten Traum aufgeweckt: Dem Traum vom Sieg im ›Großen Krieg‹, wie man ihn wenig später für knapp über 20 Jahre nennen wird; des Ersten Weltkriegs, des heute fast vergessenen Krieges. Schlag auf Schlag geht es jetzt. Jeden Tag etwas Neues von der Westfront. Am 26. September attackieren Franzosen und Amerikaner im Zentrum, am 27. Engländer, Kanadier und Australier etwas weiter im Norden, am 28. Engländer in Flandern die letzte Verteidigungs, die ›Hindenburglinie‹. Ohne Reserven kann das Deutsche Heer dem Stakkato der Angriffe nicht durch Verschiebung von Truppen begegnen.
Die militärische Leitung bittet den deutschen Außenminister Paul von Hintze umgehend zur Besprechung nach Spa; jenes Spa, an das Heinrich Böll später so rührselig und ergreifend erinnert. Am 29.September – Bulgarien hat gerade die Waffen gestreckt – beschreibt General Ludendorff ihm die Lage an der sich nähernden Front; zum ersten Mal wird von einer Waffenruhe gesprochen und von einer neuen, nicht mehr Kaiser und Heer, sondern dem Parlament gegenüber verantwortlichen Regierung, deren erste Aufgabe es sei, Gespräche über einen Waffenstillstand einzuleiten.
Bis zum 30. September ist die ›Hindenburglinie‹ an vielen Stellen durchbrochen. Noch hält die Abwehrfront der Armeen, die einen kämpfenden Rückzug über günstigenfalls natürlich befestigtes Gelände beginnen. – Noch! – Eine Kampfpause wird stündlich dringender nötig. Sie würde womöglich gewährt, wenn erst einmal Gespräche über einen Waffenstillstand begännen. Die neue, parlamentarisch legitimierte Regierung müsste mit ihnen beginnen; wäre sie nur endlich im Amt. Prinz Max von Baden, der mögliche Kanzler, erbittet sich Zeit. Eine Regierung lässt sich nicht – mir nichts, dir nichts – konstituieren.
In diesen Stunden zeigt sich die Kehrseite einer Politik, die seit Kriegsbeginn Einfluss und Wissen der Politiker kleinhält und auf Kaiser und Militärs fokussiert. Das politische Berlin hat keine Ahnung, wie schlecht es im Westen wirklich steht. Im Interfraktionelle Ausschuss – ein Gremium, das die Mehrheitsparteien des Reichstags vertritt und nun den nächsten Reichskanzler vorschlagen soll – debattieren die Sprecher der Fraktionen von Zentrum, Liberalen und Sozialdemokraten über Regierungsprogramme, mögliche neue Kanzler und mit bemerkenswerter Ausführlichkeit über die Verteilung der Posten. Man widersetzt sich dem Drängen der Heeresleitung, eine neue Regierung zu bilden, wundert sich über die plötzliche Eile, fragt: »Welches Ereignis drängt uns zur Überstürzung?« – und kommt nicht mal im Traum auf den wirklichen Grund. Jetzt, als vieles auf dem Präsentierteller liegt, was sie seit langer Zeit fordern, fassen sie nicht etwa machtbewusst zu, sondern üben sich in Redseligkeit. »Die Herren drängt weder Ehrgeiz noch besondere Eignung«, konstatiert der designierte neue Kanzler Prinz Max von Baden.
Im Hauptausschuss des Reichstags ein ähnliches Bild. Der Reichstag erweist sich als verantwortungsbewusst und steht zu dem Volk, das er vertritt; aber zugleich ist es eine Duldsamkeit, die Max von Baden sichtlich verwundert. »Wollte die Majorität jetzt Deutschlands Geschick in die Hand nehmen, so mußte sie einen Führer aus ihrer Mitte stellen. Die Herren aber bitten nur die bestehenden Gewalten, ja bitten sie geradezu sehnlichst, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um das Verhängnis abzuwenden.«
Der kritische Punkt ist 1.Oktober erreicht. Die Heeresleitung glaubt, nicht mehr länger warten zu können. Stündlich, ja halbstündlich sendet sie Telegramme Richtung Berlin; bittet um 13:00 Uhr, das Friedensangebot möge sofort abgeschickt werden; bittet um 13:30, das Angebot noch in der Nacht abzuschicken, falls die Regierungsbildung nicht bis 19 Uhr garantiert werden kann; bittet um 14:00 ein weiteres Mal, das Angebot sofort abzuschicken; nimmt die Bitte um 14:25 wieder zurück um schließlich die kaiserliche Empfehlung zu unterstützen, erst die neue Regierung möge die nötigen Schritte einleiten. Es scheint, als wäre die Oberste Heeresleitung in jenen Stunden von Panik ergriffen gewesen. Mehrmals ruft Ludendorff beim stündlich Eintreffen der Lageberichte von der Westfront laut: »Jetzt sind sie durch!«. Ein anwesender Beobachter telegraphierte am 1.Oktober, die militärische Führung habe »völlig die Nerven verloren«. Die in Abständen von 30 Minuten abgeschickten Telegramme, die auf die Herausgabe des Friedensangebots drängten, stützen das Urteil. Wäre da nicht das so ganz andere Urteil des Ludendorff behandelnden Arztes. Er beschreibt ihn Ende September als »wunderbar erholt, trotzdem die Welt in Trümmer um ihn herum zerbricht. Er ist entspannt, gelöst, erlöst, atmet und schläft wieder.«. – Ob Frau Merkel und Herr Merz noch immer gut schlafen können? Frau Merkel bestimmt. Sie hat bis heute, sowenig wie Ludendorff vor den entscheidenden Durchbrüchen der Alliierten, die wirkliche Lage erkannt. Deshalb giftet sie gegen jene, die sie erkennen.
Ludendorff war nicht mehr Panik. Anfang September war er aus seiner Ohnmacht erwacht und sah, dass ein Zusammenbruch der westlichen Front stündlich eintreten konnte, wusste, dass es anschließend für seine erschöpften Soldaten kein Halten mehr gab, weil es nichts mehr gab, woran sie sich festhalten konnten. Sein Drängen diente einem einzigen Ziel: Eine baldige Feuerpause für seine Truppen, damit sie sich sammeln. Auf Nachfragen durch einen Offizier gab er dem Ansinnen zwar kaum eine Chance. Die Ablehnung seiner Bitte um eine Kampfpause durch seinen französischen Gegenspieler Marschall Foch schien praktisch sicher. Zugleich bestand in Ludendorffs Augen eine »letzte Hoffnung«, war dies »der Strohhalm an den ich mich klammere.«
Während der Verhandlungen wird nicht geschossen; darauf spekulierte Ludendorff mit seinem Manöver, das zum Repertoire aller potentiell Besiegten gehört. 1973, im letzten israelisch–ägyptischen Krieg, versuchte Kairo seine 3.Armee vor der Einkesselung zu bewahren, indem es durch die UNO zur Waffenruhe ausrufen ließ; in den Balkankriegen der 1990er Jahre waren die Milizen aller Parteien beim Anmarsch regulärer Truppen stets zu Gesprächen bereit; heutzutage zeigen sich Terroristen nach einer Geiselnahme verhandlungsbereit, denn dann wird nicht auf sie geschossen – siehe Hamas. Ein Zivilist wird die Falle womöglich nicht mal erkennen; ein kriegsunwilliger Gegner Gespräche beginnen; indes Marschall Foch, der Oberkommandierende der Alliierten, war ein siegesgewisser Militär, der wusste, was Ludendorff plante; allerdings war er nicht Herr des Verfahrens. In London und Paris hatten die Politiker ihre Macht nicht ans Militär abgetreten; kann sein, sie hätten eine Waffenruhe gegen den Rat ihrer Generäle gebilligt, kann sein, sie hätten es nicht. »Im Kriege«, so Ludendorff zu einem Stabsoffizier, »kann man so etwas nie wissen.«
Nicht Ludendorff – die ihn umgebenden Militärs waren nunmehr in Panik. Bei ihnen wiederholte sich Ende September der Prozess des jähen Erwachens aus den gehegten Siegesillusionen. Zwar kannten sie die Gesamtlage nicht. Die blieb vor ihnen dank ihrer untergeordneten Ränge verborgen. Dafür wurde ihnen die lokale Frontlage in den täglichen Lageberichten ungeschmikt vor Augen geführt. Manch einer scheute sich nicht, die Realitäten beim Namen zu nennen; Unaufrichtigkeit widersprach jeder preussischen Militärtradition. Kritik wurde von erfahrenen Kommandanten, die um die kritische Frontlage sehr genau wussten, schon im Frühjahr und dann im Sommer immer öfter geäußert. Der Generalstab war kein Zentralkomitee. Der Vorschlag, die Politik einzuschalten und die bitteren Konsequenzen zu ziehen, kam sogar aus Ludendorffs Stab. Doch Siegeswunsch und tiefe Furcht vor der Niederlage, jene tiefste Verletzung militärischen Stolzes, bewirkten, dass sie in ihrer Mehrheit die Augen vor den Realitäten immer wieder verschlossen – verschließen konnten, wenn sie nur wollten. Nicht einmal Feldmarschall Hindenburg erhielt von Ludendorff volle Aufklärung über die militärische Lage. Endlich, am 1.Oktober, wird den engsten Mitarbeitern Ludendorffs die Situation an der Westfront erläutert. Zum ersten Mal heißt es, der Krieg sei nicht mehr nur nicht zu gewinnen, »vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidbar bevor«. Ausgesprochen war das Fürchterliche ein Schock. Ein Anwesender berichtet, während Ludendorff sprach habe man »leises Stöhnen und Schluchzen gehört, wohl den meisten seien unwillkürlich die Tränen über die Backen gelaufen.« Wissen und bewusst werden sind nicht dasselbe.
Am folgenden Tag, dem 2.Oktober, wird den Vorsitzenden der Reichstagsfraktionen reiner Wein eingeschenkt. Vormittags stellt ein Offizier die militärische Gesamtlage dar. Er beschreibt den Verlauf der Kämpfe, betont den Mut der kaiserlichen Soldaten und die Unterlegenheit der Amerikaner, verweist auf die Wirkung der Panzer, den Abfall Bulgariens und die katastrophale Ersatzlage. Nein, von Niederlage ist nirgends die Rede; aber man sei nicht mehr in der Lage, »dem Feinde den Frieden aufzuzwingen«. Selbst der geschönte Vortrag hinterlässt bei den Abgeordneten einen »niederschmetternden Eindruck«: Gustav Stresemann wirkt gebrochen, Friedrich Ebert ebenfalls und bekommt einen »Weinanfall«, Vizekanzler Payer gerät in »große Bestürzung«. Die heftigen Reaktionen sind begründet. Erst wenige Tage zuvor – am 24.September – hatte der Reichskanzler im Hauptausschuss des Reichstags versichert, die ›Hindenburgfront‹ – so nennt er die ›Hindenburglinie‹ –, »würden wir halten«. Plötzlich stimmt das alles nicht mehr. Einige wenige Abgeordnete hatten bereits eine trübe Ahnung gehabt; über das Fiasko am 8.August hatte die deutsche Presse berichtet und ausländische Zeitungen, ja sogar die Heeresberichte der Alliierten konnte man jederzeit in deutschen Zeitungen lesen. Deshalb hatte man vom Kanzler Aufklärung über die wahre militärische Lage gefordert und scheinbar erhalten. Nun zeigte sich, man hatte die Abgeordneten mit beruhigende Worten über den Ernst der Lage getäuscht. »Das ist das Entsetzliche«, wird der Vizekanzler Payer zitiert, »dass man es soweit hat kommen lassen, dass man fast wehrlos sich in die Hände des Feindes geben muss«. Das war die harte Realität Anfang Oktober: Deutschland ging nicht als Sieger vom Schlachtfeld, einige munkelten, der Krieg sei verloren.
Einen Tag später, am 3. Oktober 1918, übernimmt Prinz Max von Baden als erster vom Deutschen Reichstag bestimmter Reichskanzler die Regierungsgeschäfte. Die Kanzlerschaft war eine Notgeburt: zu früh, zu schnell, erzwungen. Prinz Max, schon seit längerem im Gespräch, einmal vom Kaiser abgelehnt, drängte sich nicht in das Amt; er wurde gedrängt. Auf keinen Fall dürfe er, der süddeutsche Adlige, der in der Kriegsgefangenenfürsorge aktiv war, sich der Verantwortung für sein Vaterland in diesen dramatischen Tagen entziehen. Max von Baden gab nach, um binnen Stunden erfahren zu müssen, dass er, der sich als Handelnder wähnte, Behandelter war. Zuerst und sofort sollte er eine Note nach Washington übermitteln, in der die deutsche Regierung den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ersucht, alle kriegführenden Staaten zu Friedensverhandlungen einzuladen und den »sofortigen Abschluss eines Waffenstillstands« zu erwirken. Max von Baden hätte mit der Herausgabe lieber noch zwei Wochen gewartet, damit der Amtsantritt der ersten von der Reichstagsmehrheit inthronisierten Regierung in Deutschland und vor der Weltöffentlichkeit durch ihr reformerisches Programm eine gewisse Wirkung entfaltet. Und unter allen Umständen wollte er auf das Gesuch um einen Waffenstillstand verzichten.
Am Samstag, den 5.Oktober, sprach der neue Kanzler im Reichstag. Er umriss die aktuelle Lage des Landes. Von nun an würde politisch vieles im Deutschen Reich grundsätzlich anders, will heißen demokratischer werden. Er habe den amerikanischen Präsidenten in einer Note gebeten, nach Wegen zum Frieden zu suchen. Ferner ersuche das Deutsche Kaiserreich um einen Waffenstillstand. Die Reichstagsabgeordneten reagierten weniger schockiert als von Prinz Max befürchtet. Doch in der deutschen Öffentlichkeit entfaltete die Note an Wilson schnell eine eigene Wirkung; nicht als Ganzes; aber ein Ersuchen um Waffenstillstand hatte kaum jemand erwartet. Wie zuvor führende Militärs und Politiker wurden Soldaten und Zivilbevölkerung an diesem »dunklen Tag«, wie der einflussreiche Walter Rathenau den 5.Oktober damals nannte, völlig überrumpelt.
Den Vorwurf der Unwissenheit kann man der Bevölkerung auch im Rückblick nicht machen. Selbst für die Kriegsgegner Deutschlands kam das Gesuch um Waffenstillstand überraschend. Britischer Realitätssinn und französische Kriegsmüdigkeit hatten trotz der Erfolge im Sommer jede übertriebene Hoffnung gedämpft; die Amerikaner waren nach den ersten schweren Verlusten skeptisch geworden. Vielleicht im Sommer 1919, aber wahrscheinlich erst 1920 wäre Deutschland besiegt.
Kritiker des voreiligen Waffenstillstandsgesuchs fanden mit ihren Aufrufen keinen Widerhall beim einfachen Volk. Walther Rathenaus pompöse Erklärung vom 7.Oktober: »Das Land ist ungebrochen, seine Mittel unerschöpft, seine Menschen unermüdet« und sein Aufruf zu einer »Erhebung de Volkes« – sie trafen an diesem Montag nur noch auf wenige offene Herzen, auch wenn etliche ihm zugestimmt hätten, als er schrieb: »Wir sind gewichen aber nicht geschlagen«. Allein seiner Forderung nach einer Entlassung jener, die die Nerven verloren, diesem Fingerzeig in Richtung Ludendorff, hätten wohl alle beipflichten können.
Egal – denn solche Erklärungen blieben Makulatur. Max von Badens Rede wurde von den meisten Deutschen als das erlebt, was sie auch in den Augen des britischen Ministerpräsidenten Lloyd Georg war: »die Rede des Ministerpräsidenten eines geschlagenen Reiches.« Das Waffenstillstandsgesuch hatte das Deutsche Reich in seinen Grundfesten getroffen und ließ aus den bisher beschützt Geführten verängstigt Treibende werden; es wirkte traumatisch.
Am 3. Oktober 1918 wurde in Deutschland zum ersten Mal ein Kanzler vom Reichstag gewählt. Grund genug für Demokraten, den Tag als Feiertag zu begehen. Das ist er ja auch. Nur fehlt eben jeder Hinweis auf den wirklichen 3. Oktober – den von 1918. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg war zu unerträglich, als daß man sich seiner erinnern wollte. Der 9. November 1918 sollte später den eigentlich lichten Moment einer demokratischen Selbstbefreiung überschatten. Dabei wäre eine Betrachtung jenes militärischen Desasters es wert, auf die heutigen Tage des wirtschaftlichen Niedergangs, das niemand wahrhaben will, übertragen zu werden. In diesem Land, dem es an Klarsicht über die eigene Lage wieder und wieder gefehlt hat. Das sich selber mit diesem fürchterlichen »Wir schaffen das« ins Unglück gestürzt hat. Immer muß es hart auf eine Kante aufschlagen, bevor es die Realitäten erkennt.
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